Wednesday, March 10, 2010

 

Apollo und die Fastenzeit


Am Anfang Rilkes “Neuer Gedichte” steht sein “Archaischer Torso”. Es ist ein Sonnett über eine stark entstellte, aber dennoch sehr aussagekräftige griechische Statue. Daß Rilke zur Bildhauerei und zu Plastiken ein Nahverhältnis hatte, nimmt nicht wunder, war er doch jahrelang der Sekretär Auguste Rodins. Aber er tut mehr, als nur diesen Torso zu beschreiben; die letzte Zeile endet mit „Du musst dein Leben ändern“. Was hat es damit auf sich? Hier das Gedicht:


Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.


Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

Alles, was von dieser Statue übrig bleibt ist ein Torso: wir wir wissen nicht, wie der Kopf oder die Augen ausgesehen haben mögen, dennoch geht von dieser Figur ein Glühen aus wie von einem Kandelaber. Im Schauen auf diese nackte Figur ist Rilke verblüfft über ihre Scham-losigkeit: trotz Nacktheit verbirgt sie nichts, sondern hält dem Blick des Beobachters stand, ja lächelt sogar zurück. Das Licht, welches von diesem Torso ausgeht, zieht Rilke in seinen Bann, scheint es doch ein geradezu göttliches Licht zu sein, wie von einem Stern ausgehend. Und auf einmal wird der Beobachter zum Beobachteten, und was er zuvor angesehen hat, sieht ihn nun an, mit aller Kraft. Unter diesem Blick leuchtet es dem Dichter ein, daß er sein Leben ändern muß.

Der Torso stammt von Apollo, dem Gott des Lichts und der Sonne. Sein ganzes Wesen ist Licht, und Licht geht von ihm aus. Aber nicht nur Licht, sondern auch Weisheit und Weisung, war er doch auch der Hüter des Orakels von Delphi. So scheint es, als ob über tausende von Jahre hinweg nicht allein die Form eines Kunstwerks auf Rilke einwirkt, sondern die göttliche Kraft Apollos selbst. Wie eine wortlose Mahnung führt der stumme Blick des Torsos zur Einsicht, daß es gilt, sich zu verändern.

Doch noch ein anderes Element schwingt mit. Es gab eine Zeit, wo Nackheit ohne Scham existierte, und zwar im Paradies. Adam und Eva waren nackt: körperlich, aber auch seelisch- sie trugen keine Masken, was sie in ihrem Herzen dachten, war nach aussen sichtbar. Mit der ersten Lüge begann ein Spiel, das bis heute andauert, in welchem wir uns verbergen, verkleiden und maskieren. Manchmal, nur ganz selten, gelingt es jemandem, durch die Fassade zu dringen in unser Innerstes und uns zu sehen, wie wir wirklich sind, doch zumeist haben wir Angst vor solcher Intimität. Aber gerade ein solcher Blick vermag es oft, in uns Veränderung hervorzubringen.

Die Wochen vor Ostern sind für viele Christen eine Zeit der Erneuerung. Wie der Frühling Neues in der Natur hervorbringt, so sollen Gebet und Reflektion auch bei uns neue Sprossen treiben. Dazu braucht es aber Licht und Sonne, und zwar göttliche. Machen wir es doch Rilke nach, und lassen wir uns anschauen, in all unserer Nacktheit und Unvollkommenheit. Das kann anfänglich schmerzhaft und peinlich sein, denn die Wahrheit tut weh; aber es ist der erste Schritt hin zur Veränderung, zur Umkehr. Vielleicht ist es dann auch uns gewährt, noch einen ganzen Band „Neuer Gedichte“ zu verfassen.


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