Monday, March 03, 2008

 

Rote oder blaue Pille?

Vor rund 2500 Jahren unterhält sich Glaucon mit seinem Freund, einem Philosophen. Dieser stellt die Frage, ob das, was wir sehen, der Wirklichkeit entspricht. Er meint vielmehr, dass wir zumeinst nur Schatten sehen, als ob wir in einer Höhle sässen und im dumpfen Licht Abbildungen davon wahrnähmen, was sich ausserhalb der Höhle zuträgt. Daher ist es nur naheliegend, dass früher oder später jemand versucht, aus der Höhle zu klettern, dem Sonnenlicht entgegen. Wem das gelingt, der merkt auf einmal, wie „unwirklich seine Höhlenwirklichkeit“ war. Wenn er sich einmal an das grelle Sonnenlicht gewöhnt hat, ist es gar keine Frage mehr, wo er lieber sein will, denn hier sieht er die Dinge so, wie sie wirklich sind. Doch der Wunsch, seine Mitgefangenen in der Höhle aufzuklären, treibt ihn dazu, den beschwerlichen Rückweg anzutreten. Da macht er eine bittere und überraschende Erfahrung: erstens tut er sich schwer, sich wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen; zweitens glauben ihm die Höhlengenossen kein Wort, vielmehr wollen sie ihn um jeden Preis loswerden. Er ist ein unangenehmer Zeitgenosse geworden.

Dieses Höhlengleichnis Platos hat die Philosophie für Jahrtausende beschäftigt. Jüngste Erkenntnistheorie hat gefragt, wie hilfreich eine solche Darstellung ist. Dennoch, bis in die zeitgenössische Filmkunst hinein wirft der Mensch immer wieder die Frage auf, ob das, was er sieht, wahr ist, oder ob es eine tiefere, versteckte Wirklichkeit gibt. Im Film „Die Matrix“ hat Neo die Wahl, entweder die blaue Pille zu nehmen und so weiterhin der Schattenwelt glauben zu schenken; oder aber, er nimmt die rote und steigt aus der Höhle auf. Der Rest des Films zeigt aber auch, dass der Matrix, der Scheinwelt zu entfliehen, weder einfach noch ungefährlich ist. Auf einmal halten alte Antworten nicht mehr, und Freunde empfinden uns als unbequem und den Frieden störend.

Seit fast so vielen Jahren, wie es das Höhlengleichnis gibt, begehen Christen um diese Jahreszeit den Brauch des Fastens. Für rund sieben Wochen beschließen sie, auf vielfältige Weise normale Lebensvollzüge zu verändern: weniger zu essen, nicht fernzusehen, keine Zeitungen zu lesen, keinen Sex zu haben. Was als hart und der menschlichen Natur widerstrebend scheint, bewirkt aber einen seltsamen und ganz anderen Effekt: was als lebensnotwendig und unverzichtbar galt, nimmt auf einmal an Wichtigkeit ab und eine andere Wirklichkeit gewinnt Gestalt und Farbe. Auf einmal sieht man sich selbst, seine Mitmenschen und die ganze Welt ein Stück mehr, wie sie „wirklich“ sind; es ist, als ob man aus der Höhle gestiegen sei. So wird dann das Wort aus der Bibel auf einmal verständlich „Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt“.
Daraus entstehen oft Initiativen, den Armen zu helfen, sein Geld zu teilen, einfacher zu leben, vielleicht auch seinen Job zu wechseln. Es wird Licht und die Schatten weichen.

Was immer unsere philosophische Position zur Erkenntnistheorie ist: einmal im Jahr die rote Pille nehmen, kann auf keinen Fall schaden.


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