Wednesday, June 07, 2006

 

Was die Bibel uns verschweigt- Die Resozialisierung des Bartimäus


Und sie kommen nach Jericho. Und als er und seine Jünger und eine große Volksmenge aus Jericho hinausgingen, saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Weg.Und als er hörte, daß es Jesus, der Nazarener, sei, fing er an zu schreien und zu sagen: Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner! Und viele bedrohten ihn, daß er schweigen sollte; er aber schrie um so mehr: Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn! Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes! Steh auf, er ruft dich!

Er aber warf sein Gewand ab, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, daß ich dir tun soll ? Der Blinde aber sprach zu ihm: Rabbuni, daß ich sehend werde. Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt! Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm auf dem Weg nach. (Markus 10,46-52)

Die Geschichte des Bartimäus ist aus vielen Gründen sehr einprägsam. Ein Blinder verwirft alle Konventionen und schreit sich die Seele aus dem Hals, als Jesus des Weges kommt. Sein Umfeld hält ihn für verrückt und versucht mit allen Mitteln, ihn zum Schweigen zu bringen. Aber Jesus ist nicht zu beschäftigt, um anzuhalten und ihn zu sich zu rufen. In dem kurzen Zwiegespräch werden sowohl die persönliche Hinwendung Jesu sichtbar als auch der Glaube des Bartimäus, der ohne Umschweife um Heilung seiner Blindheit bittet, und diese daher auch erlangt. Daraufhin folgt er Jesus und dessen Jünger.

Was die Schrift uns vorenthält und worüber wir nur Vermutungen anstellen können, sind die Tage danach, als Bartimäus wieder in das Normalleben zurückkehrt. Was heisst denn überhaupt normal für jemanden, der für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, blind war und gebettelt hat. Sein Lebensraum war auf das Äusserste beschränkt und er war von der Hilfe anderer abhängig. Auf einmal kann er sehen und es besteht eigentlich kein Bedarf mehr, zu betteln. Was macht er jetzt mit seinem Leben? Wo will er arbeiten? Wie kann er sich in die Gemeinschaft einbringen. Selbst mit geringem Einfühlungsvermögen wird uns klar, dass die Rückkehr ins "Normalleben" für Bartimäus mit größeren Schwierigkeiten verbunden war.

Dazu kam noch, dass es ihm nicht ganz leichtfiel, seine Situation zu erklären. Er war blind, das wissen alle. Dann lief dieser Jesus vorbei, und nun kann er sehen. Selbst für Juden, die religiöser eingestellt sind als der durchschnittliche Westeuropäer, ist das ein bisschen viel. Geheilt? Kaum zu glauben. Und Bartimäus hört nicht auf, darüber zu reden. Verständlich, denn es hat sein Leben verändert, aber doch ein wenig zu eifrig. Ob wir so jemanden in unserem Laden gebrauchen können? Besser nicht, sonst vertreibt es uns noch die Kunden. So hatte es Bartimäus gar nicht leicht, sich zurechtzufinden, denn die meisten Menschen sahen ihn argwönisch an und wollten eigentlich nichts von seiner Geschichte hören.

Noch etwas anderes fiel ihm auf: die Leute um ihn herum schienen seine Begeisterung für das Leben nicht zu teilen. Das Leben ein Geschenk? So würden sie es nicht gerade ausdrücken. Eine Plage, ja. Eine Herausforderung, vielleicht, aber ein Geschenk? Der Enthusiasmus eines neu Sehenden war für sie ganz und gar unverständlich: dass die Palmen von Jericho so schön grün seien, oder dass der Sonnenaufgang überwältigend sei- Bartimäus war ärger als ein kleines Kind mit seinen Entdeckungen, die er allen mitzuteilen versuchte. Und so fand er sich oft allein in seiner Freude. Im Laufe der Tage machte er noch eine andere Beobachtung. Die Menschen seiner Stadt waren alle in Eile. Es gab immer noch etwas zu erledigen, jemanden zu besuchen, dies oder jenes zu bestellen. Er erinnerte sich, dass er oft gescholten wurde, wenn er bettelte, denn er hielt damit die Passanten auf. Jetzt war er angeblich selbst ein gesunder und „normaler“ Bürger, aber er konnte sich noch immer nicht dazu bringen, umherzuhetzen. Es gab zu viel zu sehen und zu bestaunen. Und wenn man langsam genug unterwegs war, fielen einem Dinge und Menschen auf, die man sonst übersehen hätte: eine Vogel am Feigenbaum, andere Bettler, die arme Frau am Brunnen, ein verlorenes Kind. Und es war immer wert, innezuhalten und einen Blick oder ein paar Worte zu verschwenden. Das machte das Leben erst lebenswert.

Die meisten von uns sind uns nicht bewusst, von einer Krankheit geheilt worden zu sein. Unsere „Normalität“ ist selbstverständlich. Erleben wir das Leben als ein Geschenk? Oder ist es ein Dauerkampf, den es zu bestehen gilt? Finden wir noch Zeit, Sonnenaufgänge zu bewundern und alten Frauen über den Weg zu helfen? Oder sind Bettler, Bittsteller und Hilfsbedürftige ein Hindernis in der Erfüllung unseres Tagesplans? Wer ist der Blinde: Bartimäus oder wir?


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